Gedanken
Welche Geschichten könnten all die Gegenstände erzählen, die in den Straßen vor unseren Haustüren lagern: zum Verschenken, zum Tauschen, zum Entsorgen. Oftmals achtlos abgelegt, manchmal bewusst platziert, inszeniert, in einem Karton oder einer Schachtel. Welche Intention der Anbietende auch immer hatte – Nächstenliebe oder eigennützige Entsorgungsgedanken: das Auge bleibt hängen, die Fortbewegung verlangsamt sich, für einen Augenblick wird man Teil der Geschichte, die den ehemaligen Besitzer über Jahre oder Jahrzehnte hat festhalten lassen an diesen Dingen, deren Nutzen und deren Lasten. Bis schließlich letztere überwogen und die Entscheidung zur Trennung haben reifen lassen. Doch wohin damit? Der Weg zum Wertstoffhof ist lästig, die Bedürftigkeit bei den Menschen nebenan groß, so nun also direkt an dem Ort dem Angebot preisgegeben, der für beide Seiten einen Vorteil bietet. Nicht selten sind es dann Sammler, die kartonweise das alles wieder mitnehmen, um es in irgendeinem Portal gegen kleines Geld anzubieten. Doch auch hier stehen sich Gebende und Nehmende in einem rationalen Netzwerk gegenüber, in dem Geber a priori nicht nur verlieren und Nehmer nicht nur gewinnen, sondern vielmehr die Gegenpole einer für beide Seiten vorteilhaften ökonomischen Beziehung bilden, gleich dem Kauf einer Schachtel Pralinen im Lebensmittelgeschäft.
Und nach den ganzen Schachteln plötzlich ein Grill: alt, verdreckt, wackelig, inmitten einer Unmenge anderen Unrats an einer Wertstoffinsel. Was bewegt Menschen, ihren Abfall vor den Augen aller auf der öffentlichen Straße abzuladen, so denken wir. Rücksichtslosigkeit, Ignoranz, Dummheit – die Begründungen sind vielfältig. Doch am nächsten Tag ist er weg, dieser Grill, nur der Rest liegt noch da. Und schon sind wir wieder mitten in den Geschichten der Gegenstände, ihrer Reise von A nach B, und der Frage, ob diesen alten, schäbigen Grill wirklich jemand brauchen konnte. Gleich den löchrigen langen Unterhosen meines Onkels, die eines Tages in der Mülltonne zur Entsorgung landeten, tags darauf allerdings, fein säuberlich gewaschen, auf der Wäscheleine eines Nachbarn wieder auftauchten. Wer also vermag am Ende zu entscheiden, was Müll ist oder noch brauchbar, was weg kann und was nicht. Die Experten sagen: es gibt für alles einen Markt, und am Ende mag man dieser Aussage auch wirklich Glauben schenken.
Kehren wir zurück zu den Schachteln vor den Haustüren. Und der Frage, ob die Gegenstände darin etwas erzählen können über ihre Herkunft, ihre Vergangenheit, ihre Bestimmung. Ob ihre Vergangenheit mit ihnen reist. Und was es bedeutet, wirklich etwas davon an sich zu nehmen vor den tausend Augen der Straße und der ganzen Stadt. Ist es wirklich nur die reine Sache, die wir da forttragen, oder haben die Dinge eine Eigenschaft wie gut oder böse, haben sie gar eine Seele? Nehmen wir an, jemand fotografiert über Jahre hinweg von seinem Küchenfenster aus mit einer Kamera und Teleobjektiv andere Menschen in ihrer Privatsphäre, gegen ihren Willen, unerkannt. Bei Tag, bei Nacht, in der Dämmerung im Schutz der eigenen, dunkel gehaltenen Wohnung. Und plötzlich liegt diese Kamera in dieser Kiste, weil der Besitzer verstorben ist oder schwer erkrankt oder die Lust an der Beobachtung verloren hat. Nehmen wir weiter an, die Frau von gegenüber schlendert an der Kiste vorbei, stöbert, zögert, findet am Ende Gefallen an dieser Kamera, mit der sie selbst lange Zeit immer und immer wieder fotografiert wurde in ihrer Wohnung bei Nacht. Nun will es das Schicksal, dass in ebendieser Kamera noch eine Speicherkarte ruht, die am Ende der gleichen Frau, nennen wir sie Carolin, einen Teil der Bilder zuteil werden lässt, die sie selbst zeigen in ihrem Badezimmer. Nun begibt sie sich auf die Suche, analysiert das Haus gegenüber und versucht über den Blickwinkel abzuschätzen, aus welcher Wohnung diese Bilder gemacht wurden. Und während Carolin wieder und wieder mit einem Fernglas auf dem Balkon ihrer Wohnung steht und angestrengt auf die Fenster des Hauses gegenüber starrt, wird sie erneut beobachtet, dieses Mal von der Tochter aus der Nachbarwohnung, die alles fein säuberlich mit ihrem Handy dokumentiert und Carolin unmittelbar in den sozialen Netzwerken als vermeintliche Stalkerin outet.
Es wird so sein, dass den Dingen ihre Geschichte untrennbar anhängt, dass Sachen über eine Art Gedächtnis verfügen, dass sich ihre Vergangenheit in kleinen Spuren eingebrannt hat. Und dass sie die Menschen verändern können, die sie an sich nehmen, positiv wie negativ.
Konzept
Die hier gezeigten Fotografien offenbaren dabei auch eine Parallelwelt unserer Hochglanzgesellschaft, in der alles immer besser, schneller, neuer sein muss. Und im begrifflichen Sinne: in der man sich ENT-lastet durch ENT-sorgung, seine Sorgen gleichsam den Dingen anheftet, in der Straße preisgibt und sich ihrer entledigt. So vergehen Sorgen, entstehen neue, wandern aus den Straßen in die Wohnungen und in uns selbst hinein.
Diese Vergänglichkeit übt auf uns gleichermaßen ein Gefühl der Angst und der Faszination aus. Menschen und Dinge kommen, verbleiben, und vergehen wieder. So wie die Gegenstände an den Straßen und Hauseingängen nur für einen Augenblick präsent sind, angeboten zum Mitnehmen oder achtlos entsorgt, so ist auch das Medium der Sofortbildfotografie nicht für das Überdauern geschaffen: die Bilder verblassen, verfärben, zerkratzen, zersetzen sich. Technisch und qualitativ anderen analogen und digitalen Aufnahmemedien unterlegen, eignen sie sich aber gerade deshalb zum Abbilden flüchtiger Dinge, da sie ihnen ebenbürtig sind. Der Betrachter sieht sich auf einer Ebene mit den Fotografien und den darauf befindlichen Motiven, wird in Gedanken in das Wesen der Dinge versetzt.
Die Aufnahmen sind aus der sachlich-nüchternen, dokumentarischen Perspektive aufgenommen, so wie auch der Passant auf der Straße die Dinge entdeckt. Das Medium des Sofortbildes weist dabei nicht die Klarheit hochauflösender Digitalkameras auf, und so verbleibt oft Interpretationsbedarf bei den Bildnissen. Manchmal schemenhaft, manchmal diffus oder unscharf erkennen wir Alltagsgegenstände, die der Entsorgung preisgegeben wurden. Nicht in Szene gesetzt wie in den Warenhäusern der Stadt, sondern eilig in Kisten gequetscht oder hingeworfen. Die Schnelllebigkeit unserer Zeit zeigt sich im Lebenszyklus der Konsumgesellschaft von Anfang bis Ende, vom Einkauf bis zum Wegwerfen. Das Polaroid-Bild ist dabei nicht nur eine Photographie, sondern vielmehr ein Spiegel.